Von Jürgen Rinck.

Zweibrücken, 28. März 2020. Seit elf Tagen bin ich auf Velotour. Nicht! Nicht von Zweibrücken nach Andorra, nicht längs durch Frankreich auf kaum befahren Straßen und Kanalradwegen. Just an dem Tag als ich starten wollte, machte Frankreich die Grenze dicht.
Und nun? Ich komme mir vor wie im Spagat, während ich in den Tagebüchern der vorangegangenen Reisen lese.
Die Tage vergehen wie im Nu. Ich habe aufgehört, Corona-Nachrichten zu lesen. Fernsehen, Radio und Zeitung habe ich zum Glück nicht. Informiere mich spärlich im Netz. Dass ich nicht am Ball bleibe und regelmäßig die Statistiken lese, hatte mir kürzlich einen Schrecken versetzt. Im Kopf hatte ich einen Wert von 19.000 Fällen für Deutschland gespeichert. Der aktuelle Wert lag plötzlich bei fast 50.000. Mulmiges Gefühl.
Ich verbringe die Zeit im Garten, spate, grabe und hege; hacke Holz. Die sturmgefällten Bäume, die auf des Nachbars Feld lagen sind nun alle beseitigt. Die Frucht kann wachsen. Nur noch die Krone einer riesigen Pappel liegt in einer kleinen Brache. Ich werde sie demnächst in handgerechte Stücke schneiden und zur Seite ziehen. Den sechzig Zentimeter durchmessenden Stamm muss ich mit der Seilwinde zum Hof hinauf ziehen und mir überlegen, was ich damit anstelle. Holzschuhmanufaktur? Oder in Dealermanier durch die Stadt laufen und den Leuten quer über die leeren Plätze zurufen Psst Psst Pappel (gesprochen mit dem Akzent des Dealers, wenn er ruft, psst psst Haschisch).
Schreiben, Bürostuhlreisen Garten und Wald. Das ist mein Alltag.
Die Fernbeziehnung zu Frau SoSo in der Schweiz erlebt die härteste Prüfung seit überhaupt. Noch greift das Hilfskonstrukt der Reise, die ja momentan stattfinden würde. Die echte Fahrradreise nach Andorra. Wir wären sowieso getrennt, aber freiwillig.Wir hatten etwa vier Wochen eingeplant, maximal fünf oder sechs. Mehr nicht. Das heißt, wir würden unsere Beziehung jetzt sowieso über die Videotelefonie leben müssen. Ein Segen übrigens. Trotzdem ist es anders. Theoretisch wäre ich jetzt bei ihr. Wir würden zusammen arbeiten, kochen, lachen, essen, wir würden spazieren durch fruchtbare, lichte Bärlauchfelder, hätten Ausflüge … hätte hätte Fahrradkette, könnte könnte Altersrönte, müsste müsste Nordseeküste, möchte möchte Liebesnöchte und so weiter. Ein pandemisches Leben im Konditionell.
Fern. Die Luftlinie nach Hause, wenn ich denn losgeradelt wäre? Ungefähr 650 Kilometer. Pi mal Daumen bin ich an diesem Reisetag auf den Reisen vor zehn und vor zwanzig Jahren etwa 600 bis 700 Kilometer fern der Heimat. Heute null.
Alleine bin ich. Müde. Fühle mich leer. Es gibt kein echtes Gefühl, während der jetzt gerade stattfindenden virtuellen Reise. Noch nicht einmal Widrigkeiten. Alles geschieht nur im Kopf. Ich habe alles verloren. Bin mir nicht sicher, ob der momentane, Pandemie bedingte Ausnahmezustand daran schuld ist, oder ob ich sowieso irgendwann alles verloren hätte. Jeden Bezug zu Gefühlen. Vielleicht ist es auch eine Selbstschutzmaßnahme der eigenen Psyche, um nicht verrückt zu werden.
Das mag depressiv klingen. Es hört sich vermutlich schlimmer an als es ist. Ich bin immer noch sehr zufrieden, wenn auch nicht erfreut.
Gekürzte Fassung. Ursprung hier.
Disclaimer: Die publizierten Beiträge enthalten die Meinungen und Standpunkte der Verfassenden, nicht jene von Cronica Corona.
Und: Die Beiträge sind nicht lektoriert, Fehler sind Charakter und damit Teil der Authentizität von Cronica Corona.
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