Von Gabriella Alvarez-Hummel.

Buenos Aires, Argentinien. Keine Spaziergänge, kein Sport draussen, Auftragslage schlecht und kein Ende in Sicht. Was bleibt nach 100 Tagen Lockdown?
20.März 2020: Guten Morgen Welt! Still bist du. Lockdown seit Mitternacht.
Nichts gelernt. Nichts? Ich denke angestrengt nach. Lese meine Tagebucheinträge seit dem 20. März. Damals dachte ich, im April ginge alles weiter. Nun sind 100 Tage vergangen und noch immer steht die Welt auf diesem Flecken Erde unangenehm still. Manche sagen, der Lockdown wird bis September dauern.
20.März 2020: Ich will die Zeit nutzen, um mir Zeit zu nehmen. Lesen, Liebe machen, vom Balkon aus den Tauben zusehen. Kein Druck, kein Zwang, Tag für Tag.
Die Zeile hätte von heute sein können. Ich bin noch am selben Punkt. Druckloses Leben ist schwierig, wenn man sich stete Reibung gewohnt ist. Wenn der Druck oft die treibendste aller Kräfte ist. Druck von aussen, ja, aber vor allem jener von innen.
Habe ich tatsächlich nichts gelernt in HUNDERT Tagen Lockdown?
Nun sitze ich seit 20 Minuten vor dieser Frage, starre aus dem Fenster, ein Sittichschwarm plappert auf kahlen Bäumen, die Sonne scheint kühl. Wenn meine Freundinnen fragen, wie es mir geht, sage ich: Weisst du, ich glaube, wir haben bereits alle Phasen der Trauer hinter uns (beispielsweise: tagelange Erschöpfung, ausweglose Wut, dramatisches Weinen, besoffenes Tanzen auf dem Balkon, teilweise gleichzeitig). Nun habe ich mich an das Eingesperrtsein gewöhnt.
Es geht mir sogar gut, muss ich sagen. Alles paletti.
Jemand meinte: Wow, du klingst als hättest du Stockholmsyndrom.
Anstatt dazuzulernen, musste ich eher lernen, mit Verlusten umzugehen. Was tut man mit dem Tag und sich selbst, wenn alles wegfällt und einbricht: die Auftragslage, physische Kontakte, Inhalte für Texte, Spaziergänge, Sport im Freien, der tägliche Gang ins Café, der 30. Geburtstag, die Yogastunde, der Töpferkurs, die Pläne und Träume eines ganzen Jahres.
Wer ist man noch, wenn all das fort ist? Oder umgekehrt: Was definiert mich?
Auch darauf habe ich keine Antworten gefunden.
Mit den Verlusten ringe und raufe ich mich noch immer hie und da. In den ersten Wochen habe ich Sport getrieben als würde mein Leben davon abhängen. Dann lange gar keinen. Nun dürfen wir seit zwei Wochen ab 19 Uhr abends zum Joggen raus. Dieser erste Lauf war der beste meines Lebens. 40 Minuten lang wiederholte sich in meinem Kopf dieselbe Phrase: OMG es ist so geil. OMG es ist so geil. OMG es ist so geil.
Gestern wurde der Lockdown abermals verschärft. Von Phase 3 zurück auf Phase 1. Joggen ist wieder verboten.
Ich nahm die Nachricht schulterzuckend hin.
Vielleicht habe ich darum nichts gelernt: Weil es einfach noch lange nicht vorbei ist hier. Wir sind noch sowas von mittendrin.
Langsam ist mir dieser Text peinlich.
Ich wünschte, ich hätte Erkenntnisse, Weisheiten, Offenbarungen. Stattdessen jongliere ich mehr Fragen und Unsicherheiten als je zuvor.
Oft fühle ich mich wie eine Wandersfrau auf einem Berggrat. Ich möchte die Wanderung geniessen, aber ich muss jeden Schritt genau aufsetzen, sonst stürze ich emotional ab. Den Lockdown in einem Land wie Argentinien zu erleben, macht es schwer, die Abgründe zu ignorieren. Mit jedem Tag landen mehr Menschen auf der Strasse, weil sie ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Mit ihren Koffern stranden sie in Hauseingängen. Ihre Wolldecken noch sauber von der Waschmaschine, die sie bis vor ein paar Tagen besassen. Gestern las ich von einem Paar, das ins Hotel ziehen muss, aber weil ihr Hund nirgends erlaubt ist, schlafen sie nun auf der Strasse.
Es ist Winter in Argentinien. Mein erster Winter im Land meiner Eltern. Ich bin mir meiner Privilegien bewusst wie noch nie.
Kürzlich mussten wir die Wohnung wechseln. Vorgestern klopft es an der Tür. Die Nachbarin will wissen, woher wir sind. Droht, die Behörden zu informieren. Sagt, es sei ihr egal, dass unsere eigene Wohnung seit März im Umbau festgefroren ist. Es sei ihr egal, wo wir wohnen, bloss nicht hier. Umziehen ist nicht illegal, das wissen wir. Zum Weinen gebracht hat mich die Frau trotzdem.
Vor 100 Tagen schrieb ich: Kein Druck, kein Zwang, Tag für Tag. Dazu gehört wohl auch, den Druck von den eigenen Erkenntnisinteressen zu nehmen. Vielleicht muss ich gar nichts lernen.
Vielleicht lerne ich gerade, wie man Routinen, Erwartungen und Ansprüche verlernt.
100 Tage Lockdown in Buenos Aires.
Nichts gelernt.
Auch in Ordnung.
Gabriella Alvarez-Hummel ist freie Journalistin und Co-Gründerin der Textagentur Büro Luz. Sie lebt in Zürich, Buenos Aires und ab und zu in den Wolken.
Disclaimer: Die publizierten Beiträge enthalten die Meinungen und Standpunkte der Verfassenden, nicht jene von Cronica Corona.
Und: Die Beiträge sind nicht lektoriert, Fehler sind Charakter und damit Teil der Authentizität von Cronica Corona.
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